So viel Widerstandskraft ! Bonhoeffer lesen in kritischen Zeiten (12) Pfingsten, 31. Mai 2020

Erinnerungs- und Begegnungsstätte Bonhoeffer-Haus
www.bonhoeffer-haus-berlin.de (Texte in deutscher und englischer Sprache)

Inzwischen können wieder kleine Gruppen bis zu 5 Personen das Bonhoeffer-Haus besuchen. Darüber hinaus halten wir das Haus „offen“ durch Blogs, in denen wir für jeden Sonntag bis Trinitatis einen Bonhoeffer-Text in den historischen und aktuellen Kontext stellen unter dem Aspekt: »Wie gehören politischer Widerstand und seelische Widerstandskraft zusammen?«
In diesen Tagen, in denen Impfgegner, Anhänger von Verschwörungstheorien und andere demokratiefeindliche Aktivisten den „Widerstandsbegriff“ für sich reklamieren, ist es umso wichtiger, -völlig im Widerspruch zu diesen – Bonhoeffers Leben und Denken im Widerstand wahr-zunehmen als Hilfe zur Stärkung und Klärung.

Mit herzlichen Grüßen und guten Wünschen
Gottfried Brezger


Pfingsten: „Wir beherbergen gewissermaßen Gott und die ganze Welt in uns“


TEXT
Briefe aus der Haftzeit von 1943 und 1944 (DBW 8, Widerstand und Ergebung)

8. Juni 1943, aus einem Brief von Karl Bonhoeffer an Dietrich (DBW 8,94)

Wir hatten eigentlich gehofft, schon gestern oder vorgestern einen Brief von Dir zu haben. Da er nun auch heute noch nicht gekommen ist, will ich Dir doch schreiben, ohne weiter abzuwar-ten. Wir hoffen, dass die Verzögerung nicht daran liegt, dass Du gesundheitlich nicht in Ord-nung bist. Bei uns ist gesundheitlich nichts zu klagen. Unser Leben geht weiter im wesentlichen in Gedanken an Dich und Hans [v. Dohnanyi].

10. Juni 1943, aus einem Brief von Paula Bonhoeffer an Dietrich (DBW 8,95 f.)

Mein kurzer Gruß, den ich an Papas Brief anfügte, soll doch nicht der einzige Pfingstgruß von mir sein. Ich glaube wohl, dass es dir gelingen wird, auch in der Einsamkeit ein schönes Pfingstfest zu gestalten, denn Du bist ja nicht allein. Dass auch wir alle in Gedanken um Dich sind, weißt Du. Wir wollen miteinander an das alte Pfingstlied denken, in dem es heißt: Lass dich reichlich auf uns nieder, bis wir wieder Trost empfinden, alles Unglück überwinden“ [EG 130, O Heilger Geist, kehr bei uns ein, Strophe 4, 2. Teil]. Im Garten ist zum ersten Mal zu Pfingsten wirklich eine Pfingstrose im Aufblühen!

Eben kommt Dein Brief vom 4ten! [vom Himmelfahrtstag, nach dem Besuch von Maria und ihrer Mutter bei Dietrichs Eltern; s. blog 10] Wir hatten schon sehr darauf gewartet. Es ist uns immer eine ganz große Freude zu sehen, wie Deine innere Berufung zum Pfarrer und Theolo-gen sich auch in dieser harten Zeit an Dir erweist …

2. April 1944, aus einem Brief Dietrichs an Eberhard Bethge (DBW 8,374)

Wenn nun wohl auch Ostern vorübergehen wird, ohne dass wir zu Hause sind und uns wieder-sehen [E.B. war zu dieser Zeit bei der Wehrmacht in Italien], so verschiebe ich diese Hoffnung doch nicht weiter als bis auf Pfingsten. Was meinst Du dazu?

24. Mai 1944, aus einem Brief Dietrichs an Eberhard und Renate (DBW 8,448)

Ich weiß nicht, wie ich meine Wünsche für Eure Pfingsttage anders ausdrücken soll als indem ich ein Wort gebrauche, das ich nur selten in den Mund nehme, – ich wünsche euch, dass Ihr ein gesegnetes Pfingsten feiert, ein Pfingsten mit Gott und mit dem Gebet, ein Pfingsten, an dem Ihr Euch vom Heiligen Geist angerührt wisst, ein Pfingsten, das für die kommenden Wo-chen und Monate für Euch ein rocher de bronce [Felsen aus Erz] der Erinnerung ist. Ihr braucht Tage, an die zurückzudenken Euch nicht ein Schmerz über etwas Entbehrtes, sondern eine Stärkung durch etwas Beständiges ist. Ich habe für Euch ein paar Worte zu den Losungen zu schreiben versucht, z.T. noch heute während der Alarmstunden, sie sind daher etwas dürftig und nicht so durchmeditiert, wie es nötig wäre … Ist eigentlich für Dich. Eberhard, die Erinne-rung an die Pfingstmorgen in Finkenwalde auch so schön und wichtig?

29. Mai 1944, aus einem Brief Dietrichs an Eberhard (DBW 8,453 f.)

Ich hoffe, dass Ihr trotz der Alarme die Ruhe und Schönheit dieser sommerlich warmen Pfingsttage voll auskostet. Man lernt es ja allmählich, von den Bedrohungen des Lebens inner-lich Abstand zu gewinnen, d.h. „Abstand gewinnen“ klingt eigentlich zu negativ, zu formal, zu künstlich, zu stoisch, richtiger ist es wohl zu sagen: man nimmt diese täglichen Bedrohungen … in das Ganze seines Lebens mit hinein. Ich beobachte hier immer wieder, dass es so wenige Menschen gibt, die viele Dinge gleichzeitig in sich beherbergen können … Demgegenüber stellt uns das Christentum in viele verschiedene Dimensionen des Lebens zu gleicher Zeit;

wir beherbergen gewissermaßen Gott und die ganze Welt in uns. Wir weinen mit den Weinen-den und freuen uns zugleich mit den Fröhlichen; wir bangen …um unser Leben, aber wir müs-sen doch zugleich Gedanken denken, die uns viel wichtiger sind als unser Leben …

Das Leben wird nicht in eine einzige Dimension zurückgedrängt, sondern es bleibt mehrdimen-sional, polyphon. Welch‘ eine Befreiung ist es denken zu können und in Gedanken die Mehrdi-mensionalität aufrechtzuerhalten … Man muss die Menschen aus dem einlinigen Denken her-ausreißen – gewissermaßen als „Vorbereitung“ bzw. „Ermöglichung“ des Glaubens, obwohl es in Wahrheit erst der Glaube selbst ist, der das Leben in der Mehrdimensionalität ermöglicht und uns also auch diese Pfingsten trotz Alarmen feiern lässt.

8. Juni 1944, aus einem Brief Dietrichs an Eberhard (DBW 8,475)

… Wir hatten unser Wiedersehen von Weihnachten über Ostern auf Pfingsten verschoben und ein Fest nach dem anderen ging vorüber. Das nächste Fest aber gehört nun sicher uns, daran zweifle ich nicht mehr …

KONTEXT

Dietrich Bonhoeffer hat in seiner Familie gelernt, Feste zu gestalten. So ist seine Mutter über-zeugt, dass ihm dies auch „in der Einsamkeit“ der Gefängniszelle in Tegel gelingen wird: „Denn Du bist ja nicht allein. Dass auch wir alle in Gedanken um Dich sind, weißt Du.“ Dieses ‚Wissen‘ begleitet ihn auch in seinem letzten Gedicht „Von guten Mächten“.

Die Feste im Kirchenjahr strukturieren nicht nur das kirchliche Handeln; sie sind für Bonhoeffer auch Stationen seiner persönlichen Hoffnung auf Befreiung aus der Haft. Nach fast einem Jahr in Untersuchungshaft will er seine Hoffnung auf die Rückkehr nach Hause und ein Wie-dersehen mit seinem Freund Eberhard Bethge „nicht weiter als bis auf Pfingsten“ verschieben.

Ein „gesegnetes Pfingsten“, wünscht er Eberhard und Renate Bethge in seinem Brief von 24. Mai 1944, dass es „für die kommenden Wochen und Monate“ ein ‚Fels der Erinnerung‘ ist. Zu-gleich erinnert er Eberhard an die Pfingstmorgen in Finkenwalde.

„Man lernt es ja allmählich von den Bedrohungen des Lebens innerlich Abstand zu gewinnen“ – dieser Gedanke erscheint uns in Zeiten der Pandemie überraschend aktuell. Auch wenn wir, anders als Bonhoeffer in der Haft, nicht damit rechnen müssen, der Bedrohung ausgeliefert zu sein. Was aber macht Bonhoeffer aus diesem Gedanken? Er wendet den Begriff „Abstand“, der ihm „eigentlich zu negativ, zu formal, zu künstlich, zu stoisch“ klingt, ins Konstruktive: „Man nimmt diese täglichen Bedrohungen … in das Ganze seines Lebens mit hinein.“
Bonhoeffer beobachtet in seiner Umgebung im Gefängnis, „dass es so wenige Menschen gibt, die viele Dinge gleichzeitig in sich beherbergen können“. Dagegen setzt er den christlichen Glauben, in dem „das Leben nicht in eine einzige Dimension zurückgedrängt“ wird, „sondern mehrdimensional, polyphon„ bleibt.

„Wir beherbergen gewissermaßen Gott und die ganze Welt in uns.“ Und: „Man muss die Men-schen aus dem einlinigen Denken herausreißen“ – für mich beleuchten diese beiden Sätze das Leben und Wirken Dietrich Bonhoeffers im Licht des Geschehens von Pfingsten. Und sie wei-sen im Beten und Tun den Weg zum nichtreligiösen Verständnis der christlichen Botschaft.

Wenn Gottes Geist seine Welt neu schafft, dann wird die Kirche weit,
dann wirkt in ihr seine Schöpfungskraft, macht sie bereit zum Streit
für Frieden und für Gerechtigkeit, für Güte und Verstehn,
für Einheit in der Verschiedenheit, für Wunder, die wir sehn (G.B. 2015)


Memorial and Place of Encounter Bonhoeffer-Haus Berlin
www.bonhoeffer-haus-berlin.de

So much strength to resist! Read Bonhoeffer in critical time (12)
Pentecost, May 31, 2020

Since the beginning of May, small groups of up to 5 people can visit the Bonhoeffer House. This corresponds to the state regulations for museums and memorials. In addition, we keep the house “open” through the weekly blogs, in which we put Bonhoeffer texts in the historical and current context for each Sunday through Trinitatis Sunday with the aspect: »How do political resistance and mental strength to resist (resilience) belong together?« In these days, when opponents of vaccination, supporters of conspiracy theories and other anti-democrat activists claim the term “resistance” for themselves, it is all the more important–in complete contradiction to this–to per-ceive Bonhoeffer’s life and thinking in resistance as help for strengthening and clarifying.

With warm regards and good wishes
Gottfried Brezger, chairman


PENTECOST: “In a way we accommodate God and the whole world within us.”


TEXT
Letters and Papers from Prison, DBW, volume 8

June 8, 1943, Karl Bonhoeffer to Dietrich in the Prison (DBW vol. 8,100)
We had actually hoped to have a letter from you yesterday or the day before. Since none has arrived today, I decided to write to you without waiting any longer: we hope that the delay is not caused by any health problems on your part. We cannot complain about our own health. Our life essentially goes in thoughts of you and Hans [v. Dohnanyi].

June 10, 1943, Paula Bonhoeffer to Dietrich (DBW vol. 8,101)
My brief note added to Papa’s letter should not be the only Pentecost greeting from me. I firmly trust that, even in your solitude, you will be able to celebrate a beautiful Pentecost, for you are, of course, not alone. You do know that all of us are gathered around you in our thoughts. Together let us remember the old Pentecost hymn that says: “Descend on us in fullness, until comfort may return, and all harm be overcome.” [O Holy Spirit, enter in] In the garden a peony [Pfingstrose] is actually about to bloom for Pentecost, the first time ever.
The letter of the fourth [Ascension Day] has just arrived. We had been awaiting it eagerly. It is al-ways a joy for us to see how your inner calling as a pastor and theologian is being confirmed for you, even in these hard times.

April 2, 1944, Dietrich to Eberhard (DBW vol. 8,337)
So Easter too will come and go without our being home and seeing each other [ E.B. was with the Army in Italy at that time) But I’m not putting off our hopes any further than Pentecost. What do you say to that?

May 24, 1944, Dietrich to Eberhard and Renate Bethge (DBW vol. 8,400)
I don’t know how to express my wishes to you for Pentecost except by using a word that I seldom speak. I wish you a blessed Pentecost, celebrated with God and with prayer; a Pentecost in which you feel the touch of the Holy Spirit; a Pentecost that will be for you, in the coming weeks and months, a rocher de bronce [rock of bronze] of memories. You need days you can look back on, not with the pain of having been deprived, but as a source of strength from something that en-dures. I’ve been trying to write you a few words on the ‘Daily Texts’, some of them today during the air raids, so they are a bit sketchy and not as well thought through as they should have been … Eberhard, does remembering Pentecost mornings in Finkenwalde still feel so good and signifi-cant for you too?

May 29, 1944, Dietrich to Eberhard (DBW 8,404)
I hope that despite the air raids you both are enjoying to the full the peace and the beauty of these warm, summery days of Pentecost. Inwardly, one learns gradually to put life-threatening things in proportion. Actually “put in proportion” sounds too negative, too formal or artificial or stoic. One should more correctly say that we just take in these daily threats as part of the totality of our lives. I often notice hereabouts how few people there are who can harbor many different things at the same time …Christianity, on the other hand, puts us into many different dimensions of life at the same time; in a way we accommodate God and the whole world within us. We weep with those who weep at the same time as we rejoice with those who rejoice. We fear (I’ve just been interrupt-ed again by siren, so I’m sitting outdoors enjoying the sun] for our lives, but at the same time we must think thoughts that are much more important to us than our lives …
Life isn’t pushed back into a single dimension, but is kept multidimensional, polyphonic. What a liberation it is to be able to think and to hold on to these many dimensions of life in our thoughts … One has to dislodge people from their one-track thinking – as it were, in “preparation for” or “ena-bling” faith, though in truth it is only faith that makes multidimensional life possible and so allows us to celebrate Pentecost even this year, in spite of the air raids.

June 8, 1944, Dietrich to Eberhard (DBW volume 8,424)
We had put off seeing each other again from Christmas to Easter to Pentecost, and one holiday after another passed by. But the next holiday will certainly belong to us; I no longer have any doubt about that.

CONTEXT

Dietrich Bonhoeffer learned from his family how to organize celebrations. So his mother is con-vinced that he will also succeed „in the loneliness“ of the prison cell in Tegel: „For you are, of course, not alone. You do know that all of us are gathered around you in our thoughts. Together let us remember the old Pentecost hymn that says: “Descend on us in fullness, until comfort may return, and all harm be overcome.” This ‚knowledge‘ also accompanies him in his last poem „By Powers of Good“.

The festivals in the church year not only structure church liturgy; for Bonhoeffer they are also sta-tions in his personal hope for release. After almost a year in prison, he wants to postpone his hope of returning home and seeing his friend Eberhard Bethge not “any further than Pentecost“.

A „blessed Pentecost“, he wishes Eberhard and Renate Bethge in his letter of May 24,1944, that it will be a „rock of memory“ for the coming weeks and months. At the same time, he reminds Eberhard of Pentecost mornings in Finkenwalde.

„One learns gradually to put life-threatening things in proportion.“ – this idea seems surprisingly topical to us in times of the pandemic. Even if, unlike Bonhoeffer in custody, we do not have to count on being exposed to the threat. But what does Bonhoeffer do with this thought? He uses the term „proportion“, which sounds „actually too negative, too formal or artificial ore stoic“, to con-structively: „We just take in these daily threats as part of the totality of our lives.”
Bonhoeffer notices in the prison “how few people there are who can harbor many different things at the same time” In contrast, he sets the Christian faith in which „life isn’t pushed back into a sin-gle dimension“, “ but is kept multidimensional, polyphonic“.

“In a way we accommodate God and the whole world within us.” And: “One has to dislodge people from their one-track thinking” — for me these two sentences illuminate Dietrich Bonhoeffer’s life and work in the light of the events of Pentecost. And in prayer and action they point the way to a non-religious understanding of the Christian message.

When God creates his world anew, the Church becomes then wide,
his power works spiritually, prepares us for the fight
for peace and justice in the world, let kindness, understanding be,
for unity-diversity, for miracles that we will see. (G.B., 2015)

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