Gespräch im Bonhoeffer-Haus am Donnerstag, 27. April 2023, 19-21 Uhr

Dorothee Röhrig, Enkelin des im Widerstand ermordeten Hans von Dohnanyi und seiner Frau Christine, geb. Bonhoeffer, kommt am Vortag ihrer Lesung bei der Leipziger Buchmesse ins Bonhoeffer-Haus. Das Buch, das gerade erst vor 6 Wochen erschienen ist, hat es bereits auf die Spiegel-Bestsellerliste für Sachbücher geschafft. Dorothee Röhrig rückt die starken Frauen in der Familie, die im Widerstand nicht nur hinter, sondern neben ihren Männern gestanden haben, ins Blickfeld.

Der Buchtitel ist ein Zitat ihrer Mutter: „Du wirst noch an mich denken“ und trägt den Untertitel: „Liebeserklärung an eine schwierige Mutter“.

Dazu schreibt die dtv Verlagsgesellschaft:

Als Dorothee Röhrig auf ein altes Foto ihrer Mutter stößt, setzt sich ein Gedankenkarussell in Bewegung. Was weiß sie über diese Frau, die 18 war, als ihr Vater Hans von Dohnanyi hingerichtet wurde? Die nach dem Krieg versuchte, ihre traumatisierte Mutter Christine in das Familienleben einzubetten – so wie die Autorin später selbst für ihre von Verlusten gezeichnete Mutter da war. Mit großer emotionaler Ehrlichkeit erzählt Dorothee Röhrig vom widersprüchlichen Verhältnis zu ihrer Mutter und der Rolle der Frauen in einer außergewöhnlichen Familie. Ein Nachdenken über die Ambivalenz der Gefühle und darüber, was es heißt, Teil einer Familie zu sein, die jedem Einzelnen viel abverlangt.

Dorothee Röhrig stellt ihr Buch vor im Gespräch mit dem stellvertretenden Vorsitzenden im Bonhoeffer-Haus, Dr. Tobias Korenke, Enkel des ebenfalls im Widerstand ermordeten Rüdiger Schleicher und seiner Frau Ursula, geb. Bonhoeffer.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dorothee Röhrig,

Enkelin von Hans von Dohnanyi und Christine, geb. Bonhoeffer,

Autorin des Spiegel-Bestseller-Sachbuchs »Du wirst noch an mich denken«  Liebeserklärung an eine schwierige Mutter

Matinée im Bonhoeffer-Haus am Samstag, 22. April 2023, 11-13 Uhr

Vor achtzig Jahren, am 5. April 1943, wurden Dietrich Bonhoeffer und sein Schwager Hans von Dohnanyi mit seiner Frau Christine verhaftet. Damit begann für Dietrich und Hans die über zweijährige Haftzeit bis zu ihrer Ermordung am 9. April 1945.

Grund der Verhaftungen am 5. April 1943 war nicht die Beteiligung der Verhafteten an Vorbereitungen zum Putsch, die bereits zu Anschlägen geführt hatten, die fehlschlugen.

Diese Planungen konnten bis zum Anschlag am 20. Juli 1944 geheim gehalten werden.

Die Ermittlungen im Reichskriegsgericht und bei der Gestapo richteten sich gegen die Rettungsaktion von Juden, die von den Verhafteten zusätzlich zur Putschplanung unter dem Codewort „Unternehmen 7“ ausgeführt worden war.

Über diese historisch komplexen und dramatischen Zusammenhänge berichtet der Historiker und Publizist Dr. Winfried Meyer in einer Matinée in der Erinnerungs- und Begegnungsstäte Bonhoeffer-Haus am Samstag, 22. April, 11-13 Uhr. Thema: Hans von Dohnanyi: Putschplanung und Rettungsaktion für Juden („Unternehmen Sieben“).

Visit from Poland

On 8 June 2022, as in the previous year, three professors from the Evangelical School of Theology, EWST, Wroclaw visited us. Dr Wojciech Szczerba, Dr Marek Kucharski and. Dr. Piotr Lorek came to Berlin to strengthen the cooperation with the Evangelical Academy of Berlin and also with the Bonhoeffer House within the framework of the ERASMUS programme. The accompanying group of the Bonhoeffer House was represented by Martina Dethloff, Viking Dietrich, Kurt Kreibohm, Ingrid Portmann and Gottfried Brezger.

 

The guests from Wroclaw gave a lively and concrete account of the many efforts in their university and in society to provide refugees from Ukraine not only with accommodation, but also with a perspective in their unstable life situation. In the Kreisau Youth Meeting Centre alone, about 100 refugees have found refuge and learning opportunities.

An important point of discussion was the consultation on a project in which the Bonhoeffer House is linked in partnership with the EWST. In March 2022, a joint application was submitted to the EU Commission, on which a decision has not yet been made.

The title of the project is:

Bonhoeffer House: „Who stands firm?“

Learning civil courage with the Bonhoeffer family.

The project aims to complement the 1987 exhibition on the life and work of Dietrich Bonhoeffer in the house, thematically by focusing on the participation of women in the Bonhoeffer family in the resistance, and medially by using digital means to enable local access in the House and global access worldwide.

Dietrich Bonhoeffer’s thoughts and actions, rooted in family relationships, ecumenical experiences and the practice of his faith, continue to challenge us today to show civil courage. The German-Polish partnership opens our eyes to learning and acting together in different contexts.

Besuch aus Polen

Am 8. Juni 2022 besuchten uns, wie schon im Vorjahr, drei Professoren der Evangelical School of Theology, EWST, Wroclaw. Dr. Wojciech Szczerba, Dr. Marek Kucharski und. Dr. Piotr Lorek kamen nach Berlin, um im Rahmen des ERASMUS-Programms die Kooperation mit der Evangelischen Akademie zu Berlin und auch mit dem Bonhoeffer-Haus zu verstärken. Die Begleitgruppe des Bonhoeffer-Hauses war dabei durch Martina Dethloff, Viking Dietrich, Kurt Kreibohm, Ingrid Portmann und Gottfried Brezger vertreten.

Die Gäste aus Wroclaw berichteten lebendig und konkret über die vielfältigen Anstrengungen in ihrer Hochschule und in der Gesellschaft, den Geflüchteten aus der Ukraine nicht nur Unterkunft zu geben, sondern auch eine Perspektive in ihrer labilen Lebenssituation. Allein in der Jugendbegegnungsstätte Kreisau haben ca. 100 Geflüchtete Zuflucht und Lernmöglichkeiten gefunden.

Ein wichtiger Gesprächspunkt war die Beratung über ein Projekt, bei dem das Bonhoeffer-Haus partnerschaftlich mit der EWST verbunden ist. Im März 2022 wurde gemeinsam ein Antrag bei der EU-Kommission gestellt, über den noch nicht entschieden ist.
Der Titel des Projekts ist:
Bonhoeffer-Haus: „Wer hält stand?“
Zivilcourage lernen mit der Familie Bonhoeffer.

Das Projekt verfolgt das Ziel, im Haus die Ausstellung von 1987 zum Leben und Werk Dietrich Bonhoeffers zu ergänzen, thematisch, indem die Beteiligung der Frauen in der Familie Bonhoeffer am Widerstand in den Blick gerückt wird, und medial, indem mit digitalen Mitteln der lokale Zugang am Ort und der globale Zugang weltweit ermöglicht wird.
Das Denken und Handeln Dietrich Bonhoeffers, begründet in den Beziehungen in der Familie, den Erfahrungen in der Ökumene und seinem Handeln aus dem Glauben heraus fordert auch heute heraus zur Zivilcourage. Die deutsch-polnische Partnerschaft öffnet den Blick für das gemeinsame Lernen und Handeln in unterschiedlichen Kontexten.

Consultation of the teams of the Bonhoeffer Houses in Friedrichsbrunn and in Berlin

The two Bonhoeffer Houses, the Memorial and Place of Encounter in Berlin and the family’s holiday home in Friedrichsbrunn in the Harz Mountains, have much in common: „civic maturity and civility in Berlin and free space of life in Friedrichsbrunn complement each other“ (Günter Ebbrecht).

After the visit of the team from Berlin to Friedrichsbrunn in June 2018, the team from Friedrichsbrunn now came to Berlin on 7 May 2022. Both sides were happy to finally meet again in real presence. In lively conversation, experiences with the visitors and ideas and perspectives for future work were exchanged. In both houses, the work, which is done exclusively on a voluntary basis, is reaching its limits, especially as new challenges, such as the greater involvement of digital media, have to be met.

The meeting of the two teams is a good basis for joint further thinking on how the story of Dietrich Bonhoeffer and his family and their civil courage can be kept alive for very different groups and issues in society.

Gemeinsame Beratung der Teams der Bonhoeffer-Häuser in Friedrichsbrunn und in Berlin

Die beiden Bonhoeffer-Häuser, die Erinnerungs- und Begegnungsstätte in Berlin und das Ferienhaus der Familie in Friedrichsbrunn im Harz, haben viel gemeinsam: „bürgerliche Mündigkeit und Zivilität in Berlin und Freiraum des Lebens in Friedrichsbrunn ergänzen einander“ (Günter Ebbrecht).

Nach dem Besuch des Teams aus Berlin in Friedrichsbrunn im Juni 2018 kam nun am 7. Mai 2022 das Team aus Friedrichsbrunn nach Berlin. Beide Seiten waren froh, sich endlich wieder realpräsent begegnen zu können. In regem Gespräch wurden Erfahrungen mit den Besuchenden und Ideen und Perspektiven für die zukünftige Arbeit ausgetauscht.
In beiden Häusern kommt die Arbeit, die ausschließlich ehrenamtlich geschieht, an ihre Grenzen, zumal neue Herausforderungen, wie die stärkere Einbeziehung digitaler Medien, zu bewältigen sind.

Die Begegnung der beiden Teams ist eine gute Grundlage für das gemeinsame Weiterdenken, wie die Geschichte Dietrich Bonhoeffers und seiner Familie und ihrer Zivilcourage für ganz unterschiedliche Gruppen und Fragestellungen in der Gesellschaft lebendig erhalten werden kann.

On the 77th anniversary of Dietrich Bonhoeffer’s death on 9 April: „The Restoration of an authentic Worldly Order under God’s Command“ – Peace goals for the time after the end of the Nazi state

Remembering birthdays is important, especially of people who mean a lot to us. But it seems to me that remembering the day of death is even more important, especially for people who lost their lives in the resistance. The birthday belongs to that one person, but the day of death connects them with all those who walked the difficult path with them. This is especially true for the memory of Dietrich Bonhoeffer and the others who were persecuted and murdered just before the end of tyranny.

In these days in which the war in Ukraine, with the suffering of the people in the country and in exile, and with the threat to other countries in Europe, occupies our thoughts, it can be helpful to remember the historical and political foundations of the European peace order, which is a thorn in Putin’s side. Among its roots are the designs of the ‚Kreisauers‘ and the ‚Freiburgers‘. They risked their lives in resistance to the National Socialist state of injustice and arbitrariness when they worked in the middle of the war (1942/43) on the goals of a peace order after the war. The guiding idea was to overcome the dangers of nationalism by distributing the threatening concentration of power in the nation state downwards and upwards: through an infranational structure of federalism with the principle of subsidiarity and a supranational structure of a sovereign European confederation of states. The decisive factor was the establishment of a lasting legal order after the tyrants had been disarmed. The rule of law, to be established against all nationalist opposition, was seen as the prerequisite and basis for the responsibility of the individual in the social, economic and political spheres. In the new society liberated from National Socialism, this included the rule of law to protect personal development and the establishment of democratic structures as the highest educational goals.

Dietrich Bonhoeffer also took part in the discussion about peace aims. For all those who were working conspiratorially towards this, the success of their plans depended on a clarification of the peace conditions of the Allies in the event of a possible overthrow in Germany. Dietrich Bonhoeffer was predestined to promote this clarification because of his ecumenical relations, especially with Bishop George Bell. In England, a discussion had developed in church-related circles about the ideas for a ’new Europe‘ after the war. In July 1941, William Paton, as spokesman for a discussion group with high-ranking church, social and political leaders, published in July 1941 a peace draft with the theme „The Church and the New Order“.[1]

Dietrich Bonhoeffer responded to secial points of this draft during his second trip to Switzerland (28 August – 26 September 1941) together with Willem A. Visser’t Hooft, the General Secretary of the World Council of Churches in Geneva, which was still in the process of being established. Eberhard Bethge describes this memorandum from Geneva as a „highly political book review“.[2] In the comments on Paton’s 4th chapter („The Ideal and the Next Steps“), Dietrich Bonhoeffer concretises the peace goals in his draft:

„What matters is whether a state order in Germany is realized that acknowledges its responsibility to the commands of God. That will become evident in the total removal of the Nazi system, including and especially the Gestapo; in the restoration of the sovereignty of equal rights for all; in a press that serves the truth; in the restoration of the freedom of the church to proclaim the word of God in command and gospel to all the world.“[3]

 

Bonhoeffer contradicts the „division of the whole of reality into sacred and profane“[4] and thus challenges the secular understanding of the world historically founded in the Enlightenment. The ‚Kreisauers‘ and the ‚Freiburgers‘ also formulate a reference to God in their ideas for a peace order. Bonhoeffer, however, explicitly seeks the basis of the legal order not in the ideal of the individual’s personal right or human rights, but in God’s command to protect the other, which is guaranteed in God’s Otherness (1st commandment) and in the divine monopoly on the use of force and can be experienced in Christ as the ‚Man for Others‘. „Whoever confesses the reality of Jesus Christ as the revelation of God, confesses in the same breath the reality of God and the reality of the world, for they find God and the world reconciled in Christ.“[5]

 

What does this Christian confession in interreligious dialogue mean today for the ideas of the rule of law in Europe in the face of religious-cultural plurality and diversity of life-stiles? On what normative foundation can the „common house of Europe“ exist in stormy times and also withstand the imperial warlike attacks of the „Russki Mir“[6] („Russian World“)? Certainly not only through the demonstration of military strength to the outside world, but fundamentally through the internal strengthening of civil, state and international law. In a legal and peaceful order that is committed to the commandment of love, the last will be first (Matthew 19:30). Its success is not based on the assertiveness of the interests of the strong, but on the social participation of the weak in society and in the international community of states. If the dignity of ‚the Other‘ is to be respected, protected and its violation through aggression, hatred, disregard and exclusion also sanctioned, openness, willingness to learn and readiness for dialogue is the path of empathy and solidarity with all those who are threatened by exclusion. The Christian commitment to the commandment of love becomes the preparation for God’s reality in the unreconciled world. Dietrich Bonhoeffer experienced the promise of this commandment of God, which demonstrates its reconciling power in Christ’s word and deed, in ecumenism, in the „universal Christian brotherhood that rises above all national hatreds“[7].

 

Gottfried Brezger, Rev. ret., Chairperson of the Board

Memorial and Place of Encounter Bonhoeffer-Haus, registered association, Berlin

 

„The Restoration of an authentic Worldly Order under God’s Command“- Peace goals for the time after the end of the Nazi state: Dietrich Bonhoeffer Works (DBWE). Volume 16. Conspiracy and Imprisonment: 1940-1945. Minneapolis 1996, 532.

[1] William Paton: The Church and the New Order, Gateshead on Tyne, July 1941.

[2] Eberhard Bethge: Dietrich Bonhoeffer. Theologe – Christ – Zeitgenosse. Eine Biographie. München 1970, 3. Auflage.

[3] Dietrich Bonhoeffer DBWE 16,532.

[4] Dietrich Bonhoeffer, Ethics, DBWE 6,57.

[5] Ibid. 62.

[6] Today, the formulation in Bonhoeffer’s draft of the response to Paton in anticipation of the German defeat and the Russian victory makes us take special notice: „It is not pan-Germanism, but rather pan-Slavism that is the coming danger“. The memorandum, written jointly with Visser’t Hooft, says: „Even though we may consider the British-Russian alliance a justifiable and unavoidable political decision, we must not minimise the danger which Russia represents for all what we hold dear.“ DBWE 16, 532f.,539.

[7] Dietrich Bonhoeffer’s last words, a message to Bishop George Bell, DBWE 16,469.

 

Zum 77. Todestag Dietrich Bonhoeffers am 9. April: „Die Wiederherstellung einer echten weltlichen Ordnung unter Gottes Gebot“ – Friedensziele für die Zeit nach dem Ende des NS-Staats.

An Geburtstage zu denken, ist wichtig, besonders von Menschen, die uns viel bedeuten. Noch wichtiger aber scheint mir die Erinnerung an den Todestag zu sein, insbesondere bei Menschen, die ihr Leben im Widerstand verloren haben. Der Geburtstag gehört zu dieser einen Person, der Todestag aber verbindet sie mit all denen, die mit ihr den schweren Weg gegangen sind. Dies gilt besonders auch für die Erinnerung an Dietrich Bonhoeffer und die andern, die verfolgt und die unmittelbar vor dem Ende der Tyrannei ermordet worden sind.

 

In diesen Tagen, in denen der Krieg in der Ukraine mit dem Leiden der Menschen im Land  und im Exil und mit der Bedrohung weiterer Länder in Europa unsere Gedanken besetzt hält, kann es hilfreich sein, an die historischen und politischen Grundlagen der europäischen Friedensordnung, die Putin ein Dorn im Auge ist, zu erinnern. Zu ihren Wurzeln gehören die Entwürfe der ‚Kreisauer‘ und der ‚Freiburger‘. Sie riskierten ihr Leben im Widerstand gegen den nationalsozialistischen Unrechts- und Willkürstaat, als sie mitten im Krieg (1942/43) an den Zielen einer Friedensordnung nach dem Krieg arbeiteten. Leitender Gedanke war die Überwindung der Gefahren des Nationalismus durch eine Verteilung der im Nationalstaat bedrohlich konzentrierten Machtfülle nach unten und nach oben: durch eine infranationale Struktur des Föderalismus mit dem Prinzip der Subsidiarität und eine supranationale Struktur eines souveränen europäischen Staatenbunds. Entscheidend war dabei die Herstellung einer dauerhaften Rechtsordnung nach der Entwaffnung der Tyrannen. Der gegen alle nationalistischen Widerstände zu errichtende Rechtsstaat wurde als die Voraussetzung und Grundlage für die Verantwortung des Einzelnen im sozialen, wirtschaftlichen und politischen Bereich angesehen. Dazu gehörten in der vom Nationalsozialismus befreiten neuen Gesellschaft als oberste Bildungsziele Rechtsstaatlichkeit zum Schutz der persönlichen Entfaltung und der Aufbau demokratischer Strukturen.

 

Auch Dietrich Bonhoeffer hat sich an der Diskussion um die Friedensziele beteiligt. Von einer  Klärung der Friedensbedingungen der Alliierten für den Fall eines möglichen Umsturzes in Deutschland hing für alle, die konspirativ darauf hinarbeiteten, das Gelingen ihrer Planungen ab. Dietrich Bonhoeffer war aufgrund seiner ökumenischen Beziehungen, insbesondere mit Bischof George Bell, dafür prädestiniert, diese Klärung voranzutreiben. In England hatte sich in kirchennahen Kreisen eine Diskussion über die Vorstellungen für ein ‚neues Europa‘ nach dem Krieg entwickelt. Im Juli 1941 hatte William Paton als Sprecher eines Gesprächskreises mit hochrangigen kirchlich, gesellschaftlich und politisch Verantwortlichen einen Friedensentwurf publiziert mit dem Thema „The Church and the New Order“.[1]

Auf einzelne Punkte dieses Entwurfs antwortete Dietrich Bonhoeffer während seiner zweiten Schweizer Reise (28. August – 26. September 1941) zusammen mit Willem A. Visser’t Hooft, dem Generalsekretär des im Aufbau befindlichen Ökumenischen Rats der Kirchen in Genf. Als eine „hochpolitische Buchbesprechung“ bezeichnet Eberhard Bethge[2]  dieses Memorandum aus Genf. Bei den Ausführungen zu Patons 4. Kapitel („The ideal and the next steps“) konkretisiert Dietrich Bonhoeffer in seinem Entwurf die Friedensziele:

 

„Es kommt darauf an, ob in Deutschland eine staatliche Ordnung verwirklicht wird, die sich den Geboten Gottes verantwortlich weiß. Das wird sichtbar werden an der restlosen Beseitigung des NS-Systems einschließlich und speziell der Gestapo, an der Wiederherstellung der Hoheit des gleichen Rechtes für alle, an einer Presse, die der Wahrheit dient, an der Wiederherstellung der Freiheit der Kirche, das Wort Gottes in Gebot und Evangelium aller Welt zu predigen.“[3]

 

Bonhoeffer widerspricht einer „Aufteilung des Wirklichkeitsganzen in einen sakralen und einen profanen“ Bezirk (Ethik, DBW 6, S.42) und fordert damit das historisch in der Aufklärung begründete säkulare Weltverständnis heraus. Auch die ‚Kreisauer‘ und die ‚Freiburger‘ formulieren einen Gottesbezug in ihren Vorstellungen für eine Friedensordnung. Bonhoeffer sucht allerdings die Grundlage der Rechtsordnung explizit nicht im Ideal des Persönlichkeitsrechts des Individuums oder der Menschenrechte, sondern in Gottes Geboten zum Schutz des Andern, der in Gottes Andersheit (1. Gebot) und im göttlichen Gewaltmonopol verbürgt ist und in Christus als dem ‚Menschen für Andere‘ erfahren werden kann. „Wer sich zu der Wirklichkeit Jesu Christi als der Offenbarung Gottes bekennt, der bekennt sich im selben Atemzug zu der Wirklichkeit Gottes und zu der Wirklichkeit der Welt; denn er findet in Christus Gott und die Welt versöhnt.“[4]

 

Was bedeutet heute dieses christliche Bekenntnis im interreligiösen Dialog angesichts der religiös-kulturellen Pluralität für die Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit in Europa? Auf welchem normativen Fundament kann das „gemeinsame Haus Europa“ in stürmischen Zeiten bestehen und auch den imperialen kriegerischen Angriffen der „Russki Mir“[5] („Russische Welt“) standhalten? Sicher nicht nur durch die Demonstration militärischer Stärke nach außen, sondern grundlegend durch die innere Stärkung des Zivil-, Staats- und Völkerrechts. Wenn die Würde ‚des Anderen‘ geachtet, geschützt und deren Verletzungen durch Aggression, Hass, Missachtung und Ausschluss auch sanktioniert werden soll, ist Offenheit, Lernwilligkeit und Dialogbereitschaft der Weg der Empathie und Solidarität in der unversöhnten Welt,   zusammengefasst im Liebesgebot. Die Verwirklichung dieses Gebots Gottes, das seine versöhnende Kraft in Christi Wort und Tat erweist, erfuhr Dietrich Bonhoeffer in der Ökumene, in der „universalen christlichen Bruderschaft, die sich über alle nationalen Hassgefühle erhebt“[6].

 

Gottfried Brezger, Pfarrer i.R., Vorsitzender des Vorstands

Erinnerungs- und Begegnungsstätte Bonhoeffer-Haus e.V., Berlin

 

Literaturhinweis:

Die Botschaft eines Zeugen.

Ein Dokument des Widerstands und der Ökumene:

Dietrich Bonhoeffer und W.A. Visser’t Hooft antworten auf William Patons Friedensentwurf („The Church and the New Order“, July 1941)

Gottfried Brezger: Jahrbuch für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte. Jahrgang 73/2021, S.230-262.

 

„Die Wiederherstellung einer echten weltlichen Ordnung unter Gottes Gebot“ – Friedensziele für die Zeit nach dem Ende des NS-Staats: Dietrich Bonhoeffer: Gedanken zu William Patons Schrift „The Church and the New Order in Europe“, in: Das Zeugnis eines Boten, S. 10, Neuauflage in der Sonderausgabe 2020 des Bonhoeffer-Rundbriefes, ibg, Dezember 2020, mit einem Vorwort von Christian Löhr und einem Grußwort von Joan Sauca, eingeleitet von Gernot Gerlach und Hartmut Rosenau, S. 29 f.

Dietrich Bonhoeffer Werke, Band 16: Konspiration und Haft. 1940-1945. Herausgegeben von Jørgen Glenthøj, Ulrich Kabitz und Wolf Krötke. (DBW 16), München 1996, 540.

[1] William Paton: The Church and the New Order, Gateshead on Tyne, July 1941

[2] Eberhard Bethge: Dietrich Bonhoeffer. Eine Biographie, München 1970, S. 829-833.

[3] S. Fußnote 1.

[4] Dietrich Bonhoeffer, Ethik, DBW 6.47f.

[5] Aufhorchen lässt heute die Formulierung in Bonhoeffers Entwurf der Antwort auf Paton in der Erwartung des Siegs der Alliierten über das nationalsozialistische Deutschland: „Nicht der Pangermanismus, sondern der Panslawismus ist die kommende Gefahr“. Im gemeinsam mit Visser’t Hooft verfassten Memorandum steht dazu: „Selbst wenn wir das britisch-russische Bündnis als zu rechtfertigende und unvermeidliche politische Entscheidung betrachten können, dürfen wir die Gefahr nicht bagatellisieren, die Russland für alles, was uns wert ist, darstellt.“ (DBW 16, S. 549 / S. 807, Übersetzung)

[6] Dietrich Bonhoeffers letzte Worte, eine Botschaft an Bischof George Bell, DBW 16, S.468.

 

Visit from Brussels

Katharina von Schnurbein, since 2015 the first European coordinator on combatting Antisemitism, visited the Bonhoeffer House on the occasion of her participation in the commemorative forum on the 80th anniversary of the Wannsee Conference on 20 January 1942.

Katharina von Schnurbein on 19 January 2022 in front of the 1st panel of the exhibition in the Bonhoeffer House:
Places in Berlin with a reference to Dietrich Bonhoeffer.

We enjoyed a lively exchange of thoughts about the current significance of Dietrich Bonhoeffer’s thoughts and actions in the confrontation with anti-Semitism. „Only those who shout for the Jews may also sing Gregorian“ she wrote in our guestbook. Ms von Schnurbein is very well informed about the history and significance of Dietrich Bonhoeffer, not least through her meeting with Laura M Fabrycky in Brussels and reading her book ‚Schlüssel zu Bonhoeffers Haus‘. She was pleased about the volunteer work in the house and drew our attention to funding programmes of the European Commission under the aspects of Citizens, Equality, Rights and Values (CERV). We have taken up her suggestion and are in the process of checking whether the conditions of the call for proposals of one of the various programmes could fit in with our urgent objective: to complement the visits to the House by digitising the worldwide memory and encounter with the resistance of Dietrich Bonhoeffer in the context of his family.

Gottfried Brezger

Besuch aus Brüssel

Katharina von Schnurbein, seit 2015 die erste Antisemitismusbeauftragte der Europäischen Kommission in Brüssel, hat anlässlich ihrer Mitwirkung beim Gedenkforum zum 80. Jahrestag der Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942 das Bonhoeffer-Haus besucht.

Wir haben uns gefreut über den regen Austausch der Gedanken über die aktuelle Bedeutung des Denkens und Handelns Dietrich Bonhoeffers in der Auseinandersetzung mit Antisemitismus. „Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen“ hat sie in unser Gästebuch geschrieben. Frau von Schnurbein ist sehr gut informiert über die Geschichte und Bedeutung Dietrich Bonhoeffers, nicht zuletzt durch die Begegnung mit Laura M Fabrycky in Brüssel und die Lektüre ihres Buchs ‚Schlüssel zu Bonhoeffers Haus‘. Sie zeigte sich erfreut über das ehrenamtliche Engagement im Haus und machte uns aufmerksam auf Förderprogramme der Europäischen Kommission unter den Aspekten Citizens, Equality, Rights and Values (CERV).

Katharina von Schnurbein am 19. Januar 2022 vor der 1. Tafel der Ausstellung im Bonhoeffer-Haus: Berliner Orte mit einem Bezug zu Dietrich Bonhoeffer.

Wir haben ihre Anregung aufgenommen und sind dabei zu prüfen, ob die Ausschreibungsbedingungen eines der verschiedenen Programme passen könnten zu unserer vordringlichen Zielsetzung: Ergänzung der Besuche im Haus durch Digitalisierung der weltweiten Erinnerung und Begegnung mit dem Widerstand Dietrich Bonhoeffers im Kontext seiner Familie.

Gottfried Brezger