So viel Widerstandskraft ! Bonhoeffer lesen in kritischen Zeiten (8) Zum Sonntag Kantate, 10. Mai 2020

Erinnerungs- und Begegnungsstätte Bonhoeffer-Haus

www.bonhoeffer-haus-berlin.de


KANTATE: Singet dem Herrn ein neues Lied, Psalm 98,1


TEXT A

Singet dem Herrn ein neues Lied. Auf diesem Wort neu liegt der Ton. Was ist dies neue Lied anders als das Lied, das den Menschen neu macht, das Lied, das aus dem Menschen nach Dunkelheit und Sorge und Angst hervorbricht zu neuer Hoffnung, neuem Glauben, neuem Vertrauen? Das neue Lied ist das Lied, das Gott selbst neu in uns erweckt – und ob es ein uraltes Lied wäre – der Gott, der  – wie es bei Hiob heißt – „sich Lobgesänge schafft mitten in der Nacht“. Der Lobgesang in der Nacht unseres Lebens, unseres Leidens und unserer Furcht, in der Nacht unseres Todes – das ist das neue Lied …

Singet dem Herrn ein neues Lied – und doch sind all unsere Lieder nur ein Abglanz von dem Lied der Lieder, das die Ewigkeit singt, vor dem Thron Jesu Christi … Warum sollen wir uns nicht schon hier freuen auf das neue Lied, das uns umfangen wird, wenn wir die Augen zu tun, das reinste, das süßeste, das härteste und das gewaltigste aller Lieder … Herr, wir eilen zu deinem neuen Lied. Jesu juva – Jesus hilf. Amen.

Dietrich Bonhoeffer, Predigt am Sonntag Cantate, 29.4.1934, London, DBW 13,351 ff.

TEXT B

Im Rahmen einer Veranstaltungsreihe der ‚Bekennenden Kirche‘ anlässlich der Olympiade in Berlin beschreibt Dietrich Bonhoeffer „Das innere Leben der deutschen evangelischen Kirche“ als eine Geschichte des Evangelischen Kirchenlieds. Dabei stellt er Luthers Lieder („sie sind ausnahmslos Lieder des Wortes“) den Liedern Paul Gerhardts gegenüber:

Sein persönliches Leben war von großem Leid gezeichnet. Aber so wurde er der große Prediger des Trostes und der Freude seiner Zeit. Seine Lieder zeugen nicht mehr von den großen Glaubenskämpfen  der ersten Christenheit. Luther sang von Anfechtung und Kampf, Paul Gerhardt singt: „Gib dich zufrieden und sei stille“; Luther: „Es streit für uns der rechte Mann“, Paul Gerhardt: „Hüter meines Lebens, fürwahr, es ist vergebens.“ Luther sang: „Verleih uns Frieden gnädiglich“, Paul Gerhardt: „Befiehl du deine Wege“. Luther besang die Christ[us]feste mit Worten der Schrift, Paul Gerhardt die christliche Erfahrung: „Warum sollt ich mich denn grämen“. Mit einer dieser Strophen auf den Lippen ist Paul Gerhardt gestorben.

Bonhoeffer wendet dann seinen Blick zum Lied im Pietismus mit Zinzendorf und Gellert:

Der Pietist sucht das fromme Leben, der Aufklärer das vernünftige Leben.

Zum Erweckungslied mit Spitta und Julie Hausmann („So nimm denn meine Hände“) bemerkt er:  

Es ist erwachtes religiöses Leben. Aber es geht neben der Kirche her. Es ist fromme Poesie, aber nicht gepredigtes Wort. Die Frage ist, wie wird dieser Glaube des 19. Jahrhunderts bestehen, wenn einmal große Anfechtungen über die Kirche kommen. Die Anfechtungen kamen, und die Antwort war der Kirchenkampf. Nach vierhundert Jahren Protestantismus dringt der Geist der Reformation wieder durch.

Dietrich Bonhoeffer, Vortrag über die Geschichte des evangelischen Kirchenliedes, Mitschrift, 5.8.1936, Apostel-Paulus- und Zwölf-Apostel-Kirche Berlin-Schöneberg, wiederholt im 3. Kurs in Finkenwalde, DBW 14, 714 ff.

TEXT C

Im ersten Brief aus der Haft, am 14.4.1943, schreibt Dietrich Bonhoeffer an seine Eltern:

Verzeiht, dass ich Euch Sorgen mache, aber ich glaube, daran bin diesmal weniger ich, als ein widriges Schicksal schuld. Dagegen ist es gut, Paul Gerhardt Lieder zu lesen und auswendig zu lernen, wie ich es jetzt tue.

In vielen Briefen aus der Haft findet er bei Paul Gerhardt Zuflucht, Trost und Klarheit. Im ersten Brief an seinen Freund Eberhard Bethge, der unter Umgehung der Zensur möglich ist, schreibt er am 18.11.1943:

In den ersten 12 Tagen, in denen ich hier als Schwerverbrecher abgesondert und behandelt wurde – meine Nachbarzellen sind bis heute fast nur mit gefesselten Todeskandidaten belegt – hat sich Paul Gerhardt in ungeahnter Weise bewährt, dazu die Psalmen und die Apokalypse.

In seinem Brief an Eberhard Bethge am Tag nach den gescheiterten Anschlag vom 20. Juli 1944 schreibt Dietrich Bonhoeffer:

Ich denke, Du wirst in Gedanken so oft und viel hier bei uns sein, dass Du Dich über jedes Lebenszeichen freust, auch wenn das theologische Gespräch einmal ruht. Zwar beschäftigen mich die theologischen Gedanken unablässig, aber es kommen dann doch auch Stunden, in denen man sich mit den unreflektierten Glaubensvorgängen genügen lässt. Dann freut man sich ganz einfach an den Losungen des Tages … und man kehrt zu den schönen Paul Gerhardt-Liedern zurück und ist froh über diesen Besitz. Ich habe in den letzten Jahren mehr und mehr die tiefe Diesseitigkeit des Christentums kennen und verstehen gelernt; nicht ein homo religiosus, sondern ein Mensch schlechthin ist der Christ, wie Jesus … Mensch war.“

Dietrich Bonhoeffer, Brief vom 21.7.1944, DBW 8, 541.

KONTEXT

Kopf und Herz, die „theologischen Gedanken“ und die „unreflektierten Lebens- und Glaubensvorgänge“ kommen bei Dietrich Bonhoeffer in der Haft zusammen. So wird das Singen zum ‚neuen‘ Lied, „das den Menschen neu macht“ in der „tiefe[n] Diesseitigkeit“. Und so bahnt sich für ihn der Weg zum eigenen ‚neuen‘ Lied.

Paul-Gerhardt-Lieder, die bei Festen und im Verlauf des Kirchenjahrs ihren festen Sitz in der Familientradition haben, werden Dietrich zum festen Halt und Besitz. Die Hochschätzung der streitbaren Orientierung an Gottes Wort in Luthers Liedern verbindet sich mit der Entdeckung, wie sie Bonhoeffer in seinem Brief vom 4. Advent 1943 beschreibt:

„Außerdem habe ich zum ersten Mal in diesen Tagen das Lied »Ich steh an Deiner Krippe hier« für mich entdeckt. Ich hatte mir bisher nicht viel daraus gemacht Man muss wohl lange allein sein und es meditierend lesen, um es aufnehmen zu können. Es ist in jedem Wort ganz außerordentlich gefüllt und schön. Ein klein wenig mönchisch-mystisch ist es, aber doch gerade nur so viel, wie es berechtigt ist; es gibt eben neben dem Wir doch auch ein Ich und Christus, und was das bedeutet, kann gar nicht besser gesagt werden als in diesem Lied.“

Bonhoeffers Trostgedicht für Maria und seine Familie: »Von guten Mächten« ist für viele Menschen zum ‚neuen Lied‘ geworden. Es hat die Kraft, auch in uns heute „nach Dunkelheit, Sorge und Angst“ ‚neu‘ Hoffnung, Glauben und Vertrauen zu wecken.

Memorial and Place of Encounter Bonhoeffer-Haus Berlin
www.bonhoeffer-haus-berlin.de

So much strength to resist ! Read Bonhoeffer in critical time (8)
May 8, 2020

Since May 4th, small groups of up to 5 people can visit the Bonhoeffer House. This corre-sponds to the state regulations for museums and memorials.
In addition, we keep the house “open” through the weekly blogs, in which we put Bonhoeffer texts in the historical and current context for each Sunday through Trinitatis Sunday with the aspect: »How do political resistance and mental strength to resist (resilience) belong together?« In these days, when opponents of vaccination, supporters of conspiracy theories and other anti-democrat activists claim the term “resistance” for themselves, it is all the more important – in complete contradiction to this – to perceive Bonhoeffer’s life and thinking in resistance as help for strengthening and clarifying. On May 21, 1944, the day of the baptism of his godson Dietrich Bethge, he wrote in prison at the noise of the siren “hoping that today at least you have been spared an air raid. What times these are! And what baptism! What memories for years to come! What is important is to channel all these impressions, so to speak, the right way in one’s mind; then they will just make you more defiant, harder, clearer, and that is good.”
Dietrich Bonhoeffer, Letters and Papers from Prison, DBW 8, 395.

With warm regards and good wishes
Gottfried Brezger, chairman


CANTATE: O sing to the Lord a New Song!


TEXT A

O sing to the Lord a new song. The emphasis is on the word new. What is this new song, if it is not a song that makes someone a new person, when a person leaves darkness and worry and fear behind and breaks forth into new hope, new faith, new confidence? The new song is the one that awakens God’s presence anew in us- even if it is a very old song, of the God who, as Job says, “gives songs in the night.” The song of praise in the night of our lives, of our suffer-ings and our fear, in the night of our death – this is the new song …
O sing to the Lord a new song – and yet all our songs are only a reflection of the song of songs, which sings of eternity before the throne of Jesus Christ …Why should not we, here and now, look forward to that new song that will embrace us when we finally close our eyes, the purest, sweetest, hardest, and most violent of all songs … Lord, we hasten to join in your new song. Jesu juva – help us, Jesus. Amen.

Dietrich Bonhoeffer, Sermon on Psalm 98:1, London, Cantate Sunday, April 29, 1934, DBW 13, 353 ff..

TEXT B

As part of a series of events organized by the ‚Confessing Church‘ on the occasion of the Olympiad in Berlin, Dietrich Bonhoeffer describes »The inner life of the German Evangelical Church« as a story of the Evangelical hymn. In doing so, he contrasts Luther’s songs („they are without exception songs of the word“) with the songs of Paul Gerhardt:
His personal life was … characterized by great suffering. Bu in this way he became the great preacher of consolation and joy of his era. His hymns no longer testify to the great struggles of faith of early Christendom Luther sang about temptation and struggle; Paul Gerhardt sings, “Be satisfied and remain quiet”; Luther: The righteous one fights by our side”; Paul Gerhardt: “Keeper of my life, truly, it in in vain.” Luther sang: “Grant peace, we pray, in mercy Lord”; Paul Gerhardt: ”Command us your ways.” Luther sang about Christian celebrations with words of Scripture; Paul Gerhardt sang about Christian experience: “Why should I be troubled?” Paul Gerhardt died with one of these stanzas on his lips.

Bonhoeffer then turns his eyes to the song in Pietism with Zinzendorf and Gellert: The pietist seeks a devout life, the enlightener a reasonable life.
Regarding the revival song with Philipp Spitta and Julie Hausmann („So take my hands“), he notes:
It is an awakened religious life. But it all takes place alongside the church. It is pious poetry but not the preached word. The question is how this nineteenth-century faith will fare when genu-inely serious tribulations come upon the church. The tribulations came, and the response was the Church Struggle.

Dietrich Bonhoeffer, Presentation on the History of the Protestant Hymn (Student Notes), The Inner Life of the German Evangelical Church, DBW 14, 710 ff.

TEXT C

In his first letter from prison, on April 14th, Dietrich Bonhoeffer writes to his parents:
Forgive me for the worries I am causing you, but I believe that this time it is less myself than an adverse fate that is to blame. As an antidote it is good to read and memorize hymns of Paul Gerhardt, as I am currently doing.
In many letters from prison he finds refuge, comfort and clarity with Paul Gerhardt. In the first letter to his friend Eberhard Bethge, which is possible by circumventing censorship, he writes on November 18, 1943:
In the first twelve days here, during which I was kept isolated and treated as a dangerous crim-inal – to this day the cells on either side of mine are occupied almost exclusively by death-row prisoners in chains – Paul Gerhardt proved of value in unimagined ways, as well the Psalms and Revelation.
In his letter to Eberhard Bethge the day after the failed coup of July 20, 1944, Dietrich Bonhoef-fer writes:
I think you must be so often present in spirit with us here that you will be glad for every sign of life, even if our theological thoughts do preoccupy me incessantly, but then there are hours, too, when one is content with the ongoing processes of life and faith without reflecting on them Then the Daily Texts make you happy … And then returning to the beautiful Paul Gerhardt hymns makes one glad to have them in the repertoire. In the last few years I have come to know and understand more and more the profound this-worldliness of Christianity. The Chris-tian is not a homo religious but simply a human being, in the same way that Jesus was a hu-man being.

Dietrich Bonhoeffer, Letters and Papers from Prison, July 21, 1944, DBW 8, 541.

CONTEXT

Dietrich Bonhoeffer’s head and heart, the “theological thoughts” and the “ongoing processes of life and faith without reflecting on them” come together in prison. So singing becomes a ’new‘ song, “that makes someone a new person” in the “profound this-worldliness”. And so the way for his own „new“ song paves the way for him.

Paul Gerhardt songs, which are firmly established in the family tradition at festivals and during the church year, become Dietrich’s permanent hold and possession. The appreciation of the controversial orientation towards God’s Word in Luther’s songs is combined with the discovery described by Bonhoeffer in his letter of the 4th of Advent in 1943:
In these past few days I have discovered for myself the hymn »I stand her at your manger«. Up till now I had never really made much of it. Probably one has to be alone a long time and read it meditatively in order to be able to take it in. Every word is extraordinarily replete and radiant It’s just a little monastic- mystical, yet only as much as is warranted, for alongside the “we” there is indeed also an “I and Christ”, and what that means can scarcely be said better than in this hymn.

Bonhoeffer’s consolation poem for Maria and his family: „By Powers of Good“ has become a ’new song‘ for many people. It has the power to awaken hope, faith and trust in us today when we leave “darkness and worry and fear behind“ us, new.

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